Zeitreise mit Tito’s Gebirgszug

Wir erreichen den Camping Korça, kurz bevor sich der Himmel zwölf Stunden lang ausleeren wird. Michi aus Rosenheim rollt fünf Stunden später ein, pudelnass, aber wohlgemut. Er fährt mit seinem Gravelbike und Anhänger durch Albanien und heute gibt es für ihn ein Häuschen, was nicht die Welt kostet. Nach acht Jahren hat er seinen Büroarbeitsplatz an den Nagel gehängt. In zwei Wochen geht er in den Tauern auf 2500 Metern Höhe auf eine Alp. Er hat tolle Tipps für uns, schwärmt von Montenegro, in der sich Europa’s tiefste Schlucht, die Taraschlucht befindet. Mit der Panoramabahn kann man von der Hauptstadt Podgorica in die Berge hochfahren. Klingt für uns sehr attraktiv, da wir gerade auf dem Trip sind und die touristische Mittelmeerküste, bereits 2019 errradelt, meiden möchten.

Korca, die erste Stadt nach dem nahezu menschenleeren Süden
Korca’s Stadion
Irgendwo auf unserer NS-Route in Mittelalbanien

Nachdem wir die Campingplätze links des Ochidsees liegen gelassen haben – sie wirken teilweise wie Parkplätze entlang des Ufer – quälen wir uns die Passstrasse hoch, passieren die Grenze nach Nordmazedonien und machen halt am Camping Lira. Hier treffen wir auf Josepha aus Neustadt an der Weinstrasse, die gerade Abitur gemacht hat und mit dem Rad eine große Runde durch Europa macht.

Kulla Hopi Tower. Diese Wehrtürme aus dem 19. Jh., findet man noch heute in Albanien und dem Kosovo

Das Kulla Hopi Tower, nahe der Stadt Bulqize mit seinen gefährlichen Chrom-Minen aus der sozialistischen Aera, ist das Paradies für Mountainbiker und Wanderer in der Mitte (von nichts) in Albanien. Touristen kommen hier nur spärlich vorbei. Es ist schwer zu erreichen und schweisstreibend, obwohl wir es schon von Weitem von der Strasse erkennen können. Wir kämpfen uns über unwegsames hügeliges Gelände, müssen noch einige Kühe und anderes Vieh vorbeilassen. Vor uns auf der Schotterpiste drei oder vier albanische Limousinen, die für Stau sorgen. Letztendlich schaffen wir es alle. Die AlbanerInnen schlafen im Tower und wir auf der Wiese davor. Vorher haben wir alle gemeinsam ein traditionelles Abendessen. Wir sind sehr dankbar, dass wir als Fremde daran teilnehmen dürfen. Es ist wirklich besonders.

Wer findet den Kulla Hopi Tower ?
Laden in Bulqize
Mittelalbanien, menschenleer, fern vom Tourismus
Landwirtschaft, wie wir sie nicht mehr erlebt haben
Freilaufende Schweine und anderes Vieh
Langsam nähern wir uns dem Flachland. Der Fluss hat schon im Frühling kaum Wasser.

In Klos sitzen wir eine Stunde im Café bei Espresso Macciato – so heisst es hier, wenn du einen Cappuccino möchtest, und keinen Nescafe – und zwei hart gekochten Eiern. Eine Kleinstadt, in der die Einheimischen sich alles besorgen, was sie so brauchen. Walnüsse, Bohnen, Waschmittel, Klopapier, Rechen, handgeschnitzte Stiele für Sensen, …

Shkodra, Fahrradstadt Albaniens im Norden des Landes

Kurz hinter Shkodra finden wir ein wunderschönen kleinen Campingplatz. Xhani’s Camping & Farm hat alles, was wir uns für einen Campingplatz vorstellen können. Dazu überaus liebenswerte Menschen, jung und alt. Eine hier lebende Grossfamilie, die hier allerlei Tiere hält, Obst und Wein anbaut und sich über Gäste sichtlich freut.

Entgegen unserer Gewohnheit essen wir in unserer Zeit in Albanien fast ausschließlich, was auf den Tisch kommt, traditionelle Küche, Reiseradlergerechte riesige Portionen, alles frisch und lecker: Schafskäsecreme, Oliven, warmes Brot, Burek, lecker angemachter Salat und etwas Fleisch, wenn gewünscht.

Wertstoffcenter in Albanien

In der Dämmerung machen wir einen Verdauungsspaziergang. Uns überholt ein einspänniges Pferdefuhrwerk mit zwei jungen Männern, weich gebettet auf dicken Matratzen. Wie idyllisch. Etwas weiter schmeissen sie die Matratzen in den Strassengraben und reiten im Schweinsgalopp davon. Das ist Umweltbewusstsein in Albanien.

Unsere Reise durch die menschenleeren Gegenden Albaniens war richtig schön und müllarm. Zur Senkung der Luft-, Boden-, Gewässer- und Geräuschverschmutzung in den bewohnten Gegenden Albaniens ist vermutlich noch einiges zu leisten.

Mirupafshim heisst ‚tschüss‘ auf albanisch.

‚Lass dich auf das Ungewisse ein, es könnte gut werden‘ sagen wir uns und radeln auf Geheiss von Michi nach Podgorica, um von dort aus den Zug in die Berge zu nehmen.

Frühstück bei Tito

Podgorica (früher auch Titograd), Hauptstadtbesuch in Montenegro. Sehenswürdigkeiten in einer schnuckeligen Altstadt finden wir nicht. Ausser einem Uhrturm und einer Moschee gibt es nicht viel. Das Zentrum scheint das, was von Titograd einst übriggeblieben ist. Bauten aus der Zeit Jugoslaviens, also fünfzig bis sechzig Jahre alt. Die Internationalität beschränkt sich auf die Botschaften, wobei die amerikanische eher aussieht wie ein Hochsicherheitsgefängnis und die ‚global Stores‘ in den zwei Shopping Malls, und das Crown Plaza in einer pikobello Neustadt. Viele junge Menschen. Wenig Fremde. Wir finden grüne Parks, wo wir im Schatten chillen, um der Hitze zu entgehen.

… und einen tolle Buchladen
Wandbilder sind klasse
Haupt(stadt)bahnhof

Hier startet unsere Zeitreise mit der Eisenbahn von Podgorica nach Mojkovac mit dem Zug, gut fünfzig Kilometer, 900 Höhenmeter und circa zwei Stunden Fahrzeit. Die Lok und zwei Waggons, einer 1. Klasse, einer 2. Klasse, die alten D-Züge der Deutschen Bahn, komplett verziert mit ‚Train Art‘. Der Schaffner, in adretter grauer Anzughose und weissem Hemd, weist uns in die 1.Klasse. Die Tür ist hier ein bisschen breiter als im anderen Waggon. Mit Mühe gehen unsere Reiseräder mit den breiten Lenkern in den Zug. Die Taschen lagern wir im Schaffnerabteil. Die Fahrgäste steigen teilweise von rechts und von links am Bahnhof ein, teilweise mit riesigen Koffern, die in die Gepäckfächer von damals vermutlich auch nicht mehr passen.

Los geht’s! Der Zug ist gut besetzt. Wir sehen wenig fremde Passagiere. Die Fenster, die sich öffnen lassen, sind alle geöffnet, denn es ist stickig heiss im Zug. Auf dem Gang werden die Kippen gezündet. Ob 1. oder 2. Klasse, hier scheint es zumindest preislich keinen Unterschied zu geben. Mindestens die 1. Klasse hat weiche, königlich rote Samtbezüge. Das scheint das einzige, was in den letzten 50 Jahren erneuert wurde. Der Geräuschpegel ist immens. Das der Schaffner es ohne Hörschutz aushält, ist erstaunlich. Mit stoischer Ruhe kontrolliert er die Fahrgäste. Dies ist die Teilstrecke der unter Tito nach 25 Jahren Bauzeit durch die Jugoslawischen Staatsbahnen 1976 errichteten Bahnverbindung Bar (Adriaküste) – Belgrad. ‚Die Gebirgsbahn überquert drei Gebirgszüge im Dinarischen Gebirge und hat ihren Scheitelpunkt auf 1032 m. Südlich von diesem beträgt die Maximalsteigung der Strecke 25 ‰, nördlich davon 17 ‰. Die Streckenführung im schwierigen Gelände machte 254 Tunnel und über 243 Brücken notwendig.‘ (mehr Zahlen, Daten, Fakten findet ihr bei Wikipedia).

Ankunft in Mojkovac

Wir geniessen die Zeitreise, das herrliche Panorama und anschliessend den Aufenthalt in den wunderschönen Bergen Montenegros, die jetzt im Frühling so herrlich blühende Wiesen haben, deren Tage sonnig und die Nächte herrlich kühl sind. Wir sind im touristischen Zentrum der Outdoorsportler gelandet. Hier bleiben für Bergwanderer, Kletterer, Kanuten und Skitourengänger keine Wünsche offen.

Dieses Jahr treffen wir soviel Reiseradler, wie in allen vergangenen Jahren zusammen. Josepha, die Abiturientin aus Neustart a.d. Weinstrasse ist die Jüngste. Romi aus dem Süden von München, die für ihren neuen Job hier lang radelt, um ihre Vorurteile zu überprüfen. Die Ältesten sind wir längst nicht. Es gibt die ganze Bandbreite. Vielleicht doch eine Antwort auf ‚Overtourism‘. Auf jeden Fall eine Chance auch in den nächsten Jahren noch richtig schöne Zeltplätze zu finden. Mit uns in Tito’s Panoramazug reist ein Paar aus Manchester. Mit kleinem schwarzen Täschchen, und auch sonst sehr britisch. Sie sind sie vor einiger Zeit nach Tirana geflogen, mit Handgepäck, ohne Rückflugticket. Sie fahren dahin, wo es ihnen gefällt. Wie wir. Nur haben sie kein Fahrrad und Zelt dabei. Sie sind sicher 15 Jahre älter als wir und wollen reisen, bis sie müde sind. Zwei Stationen vor uns steigen sie aus. Sie erinnern sehr an Raynor und Mot, das Paar, das auf dem Salzpfad wanderte. Geniesse das Leben!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert