Fünf Trilogien

Die finale Etappe Manfredonia nach Termoli ist standesgemäss. 120 Kilometer und 850 Höhenmeter. Es geht Richtung Norden. Den Gargano lassen wir im Westen liegen. Bei 25 Grad bläst uns ein ordentlicher Wind schräg von der Seite entgegen. Wir radeln auf kleinen, ruhigen Strassen durch’s Ackerland. Oliven, Wein, Brache, Kohl, Lauch, Fenchel. Es passieren uns mehr Traktoren als Autos. Orte sehen wir nur aus der Ferne. Nach 50 Kilometern ein Plattfuss, nach 60 eine Cola in der Bar an einer Tankstelle. Nach 90 Kilometern finden wir tatsächlich in einem kleinen Ort Wasser. Die Läden sind inzwischen zu. Zwischen 13 und 17 Uhr ist Siesta. Es gibt dann noch zwei weitere Plattfüsse (wir hatten Monate keinen). Die garstige Macchia sticht ihre Dornen durch die Mäntel. Langsam reicht es. Die letzten 20 Kilometer gehen glatt. Bei Lidl kaufen wir zwei Liter Orangensaft und trinken ihn einfach aus.
In Termoli haben wir dann noch Zeit am Hafen einen letzten Kaffee zu trinken und in der Stadt gibt es Antipasta und ein Ichnusa. La dolce Vita bis zum Schluss.

9.710 Kilometer durch sechzehn Länder Europas sind wir diese Saison gefahren. Und 3.040 km mit Öffis (2.430 km Flixbus, 450 km Fähre, 160 km Zug). Zeit für einen Rückblick in fünf Werken und jeweils drei Akten: Die einzelnen Länder einer Trilogie sind so unterschiedlich wie Brüder und Schwestern sein können.

Benelux – Luxemburg, Belgien, Niederlande (Protour)

Skandinavien – Norwegen, Schweden, Finnland

Norwegen’s spektakuläre Natur ist umwerfend. Diese mit dem Rad zu erfahren, ist einmalig. Die Versorgung ist kein Problem. Einkaufsmöglichkeiten gibt es genug in dem dünnbesiedelten Land, dank der 24/7 Läden, die ohne Personal auskommen. Die glücklichsten Menschen leben in Finnland, weltoffen, freiheitsliebend und jeden Moment des finnischen Sommers genießend. Das ist ansteckend.

Baltikum – Estland, Lettland, Litauen

Die freundlichen Letten punkten im Baltikum.

Visegrad – Polen, Slowakei, Ungarn

Polen punktet vor allem durch seine Städte. Warschau und Krakau sind sehenswert. Ausserdem Iris’ Feel Free Camping im Nichts. Als Reiseradland können wir Polen nicht empfehlen. Die Slowakei besticht durch herrliche Nationalparks und von Holländern geführte Bauernhofcampings. Ungarn hat den Donauradweg, der selten an der Donau entlang führt.

Balkan – Kroatien, Serbien, Bosnien

Bosnien ist mit Abstand das spannendste Land mit seiner schrecklichen Geschichte des Bosnienkrieges 1991-1995 und den unterschiedlichen Kulturen, die deutlich zu sehende Zerrissenheit des Landes. Dort, wo Bosnier, Kroaten und Serben in einem Land leben. In Bosnien finden wir grosse Gastfreundschaft, Fürsorge und den abenteuerlichsten Bahnradweg.

Vergessen werden wir nicht…

.. den Lehrer aus Estland, der mit seiner Familie in Sigulda/Lettland mit uns auf dem Campingplatz Urlaub macht. Für ihn ist es vermutlich eine Fernreise. Er ist sichtlich berührt von unserem Lebensentwurf.

… die Gemeindevertreterin, die die Gebühr von €5.20 einnimmt, damit wir im Park zelten können. Als Willkommen bringt sie einen Beutel bester Bauernäpfel mit. Der Apfel scheint die Frucht der Lettländer und Litauer, die sie gern teilen. Da lacht Rolfi’s Herz.

… die beiden Damen, die jeder einen Laden auf dem Lande in Lettland führen. Die eine verkauft uns einen Becher löslichen Kaffee, die andere einen Yoghurt und ein Minidessert für 25ct, welches sie lecker findet.

… die beiden aus Leipzig, die mit ihrem Hund Russland und St. Petersburg bereist haben. Sie hatten ein gültiges Visum, haben dennoch 50 Stunden mit allerlei Schikanen bei der Einreise geopfert, um ins Land zu gelangen. Dann haben sie festgestellt, dass es absolut kein Camperland ist: keine Campingplätze, keine Elektrizität usw. Über diese Neugier und Abenteuerlust können wir nur staunen.

… den dünnen Plastikbeutel, den man versäumt hat, bei Obst und Gemüse einzustecken. Wir bezahlen ihn an der Selbstzahlerkasse: 0,01ct. Der Barcode fordert es ein. 0.01ct kostet auch das Kilo Buchweizen im Supermarkt Maxima.

… die Autofahrer im Baltikum die hinterm Steuer zum Tier werden. Auf den Schotterpisten stauben sie uns ein. Mit ihren alten, aus Deutschland und Schweden eingeführten Karren verpesten sie auch noch gehörig die Umwelt.

… den sehr guten Handyempfang in Skandinavien und in den baltischen Staaten. In Polen eine Katastrophe: Unzuverlässiger Internetempfang mit mobilen Daten und mit WiFi. Am Ende bleibt immer nur McDonalds um pünktlich samstags unseren Bericht rauszuschicken.

… Dominikas und Pius, die uns in ihrem Laden in Vilnius frisiert haben und einen Einblick in ihr Leben gegeben haben. Wir haben sie dann zum Preis, den wir in Deutschland bezahlen, entlohnt. Vermutlich schütteln sie noch immer den Kopf darüber und können es nicht glauben.

… die Unterschiede zwischen den Lebensmittelpreisen in Norwegen und Polen. 20€/Kilo Kirschen hier, 30ct/Kilo lose Kartoffeln dort.

… die Unterschiede zwischen reichen und armen Ländern, mitten in Europa.

… den glücklichen Angler mit seinem Fang.

… die mit einem Grablicht gesicherte Baustelle in Bosnien. Sollte man es übersehen, können die Hinterbliebenen es auf dem Friedhof nutzen.

2019, als wir zum ersten Mal losfahren, sagte Rolf jedem, der danach fragte, wir fahren über Griechenland bis nach Finnland. Der Lenker des Fahrrades zeigte Süden. Nach Finnland haben wir es damals nicht geschafft. Mitte August 2019 in Tallinn angekommen, waren die Sommerfähren schon eingestellt und wir fuhren ohne Umweg direkt nach Stockholm.

2024 und fünf Jahre später sind wir endlich in Finnland und Rolf erzählt jedem, dass wir bis nach Griechenland wollen. Noch kurz vor Dubrovnik ist das der Plan. Doch in Bari entscheiden wir uns gegen eine weitere lange Fährfahrt und verbringen den Saisonabschluss in der südlichen Adria (die so ungleich viel schöner ist, als der ‘Teutonengrill’ im Norden).

Saisonabschluss am Gargano. Wir haben Glück, dass es noch etwas dauert, bis es einen Platz für uns und unsere Räder im Flixbus gibt. Nach ein paar Strandtagen schwingen wir uns auf die Räder und freuen uns über sportliche Tagestouren ohne Gepäck, die Berge rauf und runter, über die spätsommerlichen einsamen Hochebenen strampeln, wo Schafherden weiden und Kuhglocken läuten, um dann im nächsten Ort einen Espresso zu trinken. Unsere Tour der Heiligen möchten wir euch nicht vorenthalten. Wir radeln zwei heilige Stätten ab. Zuerst steuern wir das Grab des “Padre Pio” in San Giovanni Rotondo an. Padre Pio hat im 20. Jahrhundert gelebt und Wundmale an den Händen wie Jesus am Kreuz. Laut Wiki-Artikel ist er sehr umstritten – die Wundmale hat er sich wohl selber mit Säure zugefügt. Die Italiener sind trotzdem wie narrisch auf ihn. Der vorher beschauliche Ort hat nun einhundert Hotels für die vier Millionen Pilger jährlich. Ganz schön schräg. Wir fahren auf herrlicher Strecke weiter auf der Gargano-Hochebene nach Monte Sant’Angelo zur dem Erzengel Michael geweihten Wallfahrtskirche. Das macht schon mehr her. Durch das Portal steigen wir immer tiefer in die in den Fels gehauene Grotte mit vielen beseelten Menschen. Diesen Ort sollte man auf jeden Fall besuchen, wenn man in der Gegend ist.

Nach dem Besuch der Grotte ist Astrid’s hartnäckiger Hexenschuss fast weg. Mit dem rosa Tank-Top ist Astrid übrigens nicht perfekt gekleidet für den Besuch der beiden heiligen Stätten. Wir wechseln uns deshalb ab und tauschen vor den Kirchen die Shirts.

3 Kommentare

  1. Die Zusammenfassung ist grandios! Kommt gut zu Hause an: der Herbst hat Einzug gehalten mit all seinen Facetten! ☀️🍁🌦️🕸️🦔🍄🌾🌧️⛈️🍂💨🍎
    Hoffentlich schaffen wir es auf ein Wiedersehen im Winter 😘

  2. Ihr Lieben, es hat wieder voll Spaß gemacht, mit Euch unterwegs zu sein! Fast so schön wie selber Urlaub machen ☀️🚴‍♀️⛱️🏔️ und ihr schreibt so unterhaltsam 👍 Bei diesem Beitrag hab ich schallend gelacht über die mit Grablicht gesicherte Baustelle und Rolf im rosa Tank-Top 😆 Kommt gut nach Hause! 👋

  3. Hallo ihr Zwei,
    was ihr alles gesehen und erlebt habt auf eurer Tour durch Europa, das findet man in keinem Reiseführer. Und das schöne ist, man kann nochmal alles nachlesen in euren Berichten.
    Gute Heimreise und wir freuen uns auf ein baldiges Wiedersehen.
    Heidi und Henner

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