Charlie und die Schokoladenfabrik

In 2019, unserem ersten Reiseradjahr sind wir einfach durch Litauen, Lettland und Estland durch geheizt. Jetzt gibt es die zweite Chance. Wir kommen diesmal von Norden in Tallinn an, wie soviele, auf dem Wasserweg, mit der Fähre, nach zollfreiem Einkauf oder mit dem Kreuzfahrtschiff. Die Altstadt, herausgepuzt, voll touristisch. Ab in die Touristeninfo. Wir treffen noch einen der Nordkapradler, der mit uns auf dem Stadtcaming in Helsinki war. Die Welt ist klein.

Zentralplatz in Talinn

Sechzig Kilometer sind es bis zum Biwakplatz, den wir für heute ausgeguckt haben. Schnell sind wir aus der Altstadt raus Richtung Südosten. Wohnsiedlungen ohne Charme, reihen sich postsowietisch aneinander. Dazwischen Spielplätze, gut besucht mit Familien mit Kindern. Alles sehr nüchtern. Hier lebt man, um zu arbeiten. So sieht es aus, 35 Jahre nach der Wende, zwanzig Jahre nach dem EU Eintritt. Krass!

Lavazza aus dem Automaten in Tallinn’ Wohnstadt

Estland hat viel in Infrastruktur investiert – mit Hilfe der EU: jede Gemeinde hat schicke Sportanlagen, Spielplätze, ein Beachvolleyballfeld. Lebensfreude bereitet es den Menschen nicht gemacht.

Auch in abgelegenen Ecken gibt es geile Radwege – obwohl ausser uns niemand Rad fährt
Gleichzeitig leben, 30 Jahre nach der Unabhängigkeit, noch viele Menschen in heruntergekommenen Siedlungen (die schlimmsten haben wir versäumt zu fotografieren).

Eine Strasse, immer geradeaus, ein Radweg parallel dazu. Wir kaufen auf der Hälfte der Strecke ein, unser erster Einkauf in Estland. Brot und Bier sind billig. Ansonsten müssen wir uns jetzt einer neuen Sprache zurecht finden. Irgendwann geht es in den Wald. Es ist nicht mehr ganz so trostlos, grau und staubig.

Coop ohne viel SchnickSchnack und ‘Wer lacht, hat verloren’

Ein bißchen sind wir doch aus dem Paradies vertrieben worden oder freiwillig gegangen. Der Wald sieht schön aus im Abendlicht und wir erreichen unseren Biwakplatz: Die estnische Form des Jedermannsrecht: Schelter, Feuerstelle, Feuerholz und Toilette, fern der Zivilisation.

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Luxus-Wildzelten

Es geht hier ein Wanderweg lang, zumindest gibt es Wanderzeichen an den Bäumen. Alles topfeben, schnurrgerade Wege, sehr eintönig. Nach ausgiebigem Frühstück geht es am nächsten Morgen weiter. Nach achtzig Kilometern fällt Astrid mehrfach in Sekundenschlaf und wir müssen kurz pausieren. Zwanzig Kilometer noch bis zur Cola und notwendigem Energiekick. Einkauf nach weiteren zwanzig Kilometern. Wir denken, in zwei Tagen sind wir durch. Das war es dann mit der zweiten Chance. Nach 125 Kilometern halten wir an einer orthodoxen Kirche. Eine der wenigen Sehenswürdigkeiten bisher.

Ein Autofahrer hält an. Sven aus Tartu hilft die Kirche zu renovieren. Schnell kommen wir ins Gespräch. Er möchte uns die Kirche zeigen und er erzählt viel. Wir erfahren, dass Tartu, dieses Jahr Eurokulturhauptstadt, gerade viele Aktivitäten und Ereignisse hat. Wenn er nicht gerade hier wäre, hätten wir eine Einladung in seine Sauna bekommen. Hätte, hätte, macht nichts.
Unser heutiges Ziel, der Camping Kirivanna ist ein Träumchen, an einem Süsswassersee gelegen, der so gross, wie die Ostsee erscheint. Saunen können wir auch hier. Aber erstmal genießen wir unser Plätzchen am Strand mit herrlich trockenem, warmen Wind und nahezu kitschige Sonnenuntergang.

Camping Kirivanna: Highlight ist der Weisskopfseeadler

Nachts beginnt es zu stürmen. Die hohen Birken rauschen. Unser Zelt steht geduckt in einer Kuhle am Strand. Morgen geht es nach Tartu. Wir haben ein Hostel gebucht und besuchen im Observatorium Artur. Er arbeitet hier in den Semesterferien und ist Sven’s Sohn.

Der Mond, weder Scheibe noch Sichel

Wir lernen alles über die Erd- und Mondvermessung, die Geodätik, und Artur, das, was er wissen möchte, über das Reiseradeln. Nächstes Jahr plant er auf der vom deutschbaltischen Astronomen Friedrich Georg Wilhelm Struve (1793–1864) vermessenen Strecke bis Hammerfest in Norwegen zu fahren. Seine Begeisterung für die Wissenschaftler hier ist ansteckend. Wir freuen uns schon jetzt auf das Foto von Artur in Hammerfest.

Artur und Astrid vor dem Observatorium
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Stadthaus in Tartu

Tartu ist ein gelungener Besuch, wären wir nicht am nächsten Morgen um eine Pedale, vier Griffe und eine Luftpumpe ärmer, trotz sicherem Aufbewahrungsplatz im Hostel. Es ist das erste Mal nach fünf Jahren und 45.000 km, dass uns etwas gesklaut wurde. Jetzt passen wir wieder etwas besser auf unsere sieben Sachen auf. In Lillemäe gibt es selbstgemachte Blaubeerschnitte mit Sahne und Kaffee am Strassenrand. Das war Estland.

Alle 250 Meter Pfeiler zur Kennzeichnung der Grenze zwischen Estland und Lettland

In Lettland ist wildzelten erlaubt. Wir wollen es wieder versuchen. Die eingezeichneten Picknickplätze sind nicht gerade einladend und vermüllt. Also doch weiter zum nächsten Campingplatz. Nach 125 Kilometern noch einmal die Räder über die Gleise schleppend, hoffen, dass der Platz, der bei Openstreetmap eingezeichnet ist, auch wirklich existiert. Camping Baili ist wie eine Jugendherberge inklusive Skistation und Skischanze.

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Ganz sicher sind wir uns nicht, wie die Wintersaison hier so abgeht. Schneekanonen, Skipistenfahrzeuge, alles noch da. Auf jeden Fall sehr spannend, besonders und weiter zu empfehlen.

Cesis: Lieblings-Café Rusa
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In Cesis wird so der verschleppten und ermordeten Menschen gedacht

Der Nationalpark Gauja wird erobert. Mit der MTB-Karte aus dem hiesigen Tourismus-Büro. Es zeigt Tracks und Trails ausreichend für einen ganzen Urlaub. Wir machen erstmal einen Tag von unserer schönen Basisstation Camping Zargakalns aus. Einmal ohne Gepäck durch die Wälder und auf den Schotterpisten sausen und hoppeln. Wir taufen es lettische Schweiz. Ein Blick in Wikipedia sagt uns, dass diese nur einen Tick weiter südlich liegt. Nebenbei klappern wir die zahlreichen Sehenswürdigkeiten ab.

Papierfabrik in Ligatne, die älteste Industrieanlage im Baltikum

Buddy wird sich freuen. Riga ist nur neunzig Kilometer weit weg.
Am nächsten Morgen geht es weiter in den südlichen Teil, diesmal mit Gepäck. Nach vielen regenfreien Tagen und drei herrlichen sternenklaren Nächten sind wir überrascht als es mittags an zu regnen fängt, später die Blitze fegen und es dann aus Eimern schüttet. Als wir drei Kilometer südlich von Sigulda unseren Campingplatz erreichen, steht dieser an einigen Stellen in tiefen Pfützen.

Camping Lakeside geht sicher in die Top 10 dieser Saison

Mit einem in die Jahre gekommenen Zug mit neuer bequemer Inneneinrichtung fahren wir von Sigulda nach Riga. Da er selten mehr als fünfzig Stundenkilometer fährt und unzählige Halte hat, ist es eine Fahrt, Panoramafahrt, ideal, um die Gegend zu studieren und die Seele baumeln zu lassen. Einen Tag geht es durch Riga. Hier stehen 700 bestens erhaltene Jugendstilhäuser, dazwischen viele grüne Parks mit Wasser. Die Besichtigung der St. Petrikirche mit der Geschichte Lettlands und des Baltikums sowie die Turmbesteigung ist unbedingt zu empfehlen. In der orthodoxen Kirche machen wir im alte Damen-Café eine Pause. Bevor uns der Zug heimfährt essen wir im Bella Napoli eine Pizza und Tiramisu. Das gesamte Ambiente, Gastgeber, Essen und Einrichtung lässt uns für eine Stunde in Italien sein.

Riga’s Bahnhof
Blick vom Turm der St. Petri Kirche
Die orthodoxe Kirche
Leckerste Backwaren

Als Konstrastprogramm gibt es ein Bier im Kreativviertel, indem auch die lettische Schokoladenfabrik Laima von 1870 steht. Unser Schokoladenkonsum ist immens. Eine 200g Tafel muss jeden Tag dran glauben, ob Freia, Marabu oder Laima.

Kreativviertel

Heute sind wir in Lithauen eingefahren, wehmütig verlassen wir Lettland. Seit Monaten sind wir das erste Mal auf einem eingezäunten Campingplatz. Wir vermissen schon jetzt das skandinavische Flair und die gastfreundlichen Letten. Riga ist die Perle des Baltikums und Lettland, die schöne Muschel drum herum. Die beiden wilden Flüsse Gauja und Daugavas mit ihren weiten Tälern wahre Naturschönheiten.

5 Kommentare

  1. Liebe Astrid und lieber Rolf, es ist immer sehr interessant eure Reise zu verfolgen. Auch wenn manche Abschnitte, wie Estland wenig Begeisterung aufkommen lassen, so erlebt ihr doch immer wieder schöne und spannende Momente.
    Schade hat unser Wiedersehen nicht geklappt – vielleicht ein andermal irgendwo und irgendwann. Seid lieb gegrüsst und weiterhin gute Reise. Ursula und Hanspeter.

  2. Hallo Ihr Weltenentdecker. Lettland Estland und Litauen sind für mich blinde Flecken auf der Landkarte, durch Euch und bald auch Buddy nebst, im Herbst, auch Petra, wird dieser Landstrich etwas heller. Liebe Grüsse immer noch humpelnd Jörg

  3. Liebe Astrid und lieber Rolf,
    ein bisschen kennen wir das Baltikum, 2004 waren wir mit einer privaten Reisegruppe dort. Da wird man natürlich nur zu den touristischen Highlight geführt und man kommt selten mit den Bewohnern in Kontakt.
    Die Fotos vom Kreativviertel sind interessant und die 200 g Schokolade jeden Tag, die ihr verdrückt, ihr könnt es vertragen bei den vielen Kilometern, die ihr fast täglich zurücklegt.
    Wir sind gespannt auf Litauen.
    Gute Fahrt weiterhin und viele Grüße
    Heidi und Henner

  4. Hallöchen ihr zwei,

    Diesen Blog habe ich vor lauter Hochzeitsvorbereitungen übersehen.

    Das ist ja ein Ding, dass euch diese Fahrrad Teile geklaut wurden!
    Andererseits natürlich auch erstaunlich, dass es erst nach 45.000 Kilometern passiert und dass, obwohl ihr sehr viel in geldmäßig ärmeren Gegenden unterwegs wart.

    Es sieht gar nicht so aus, als ob es in dem estländischen Coop überhaupt etwas zu kaufen gibt. Es war wahrscheinlich schwer, ihn zu finden…

    Und ich finde es immer wieder faszinierend, dass ihr so gastfreundliche Leute trefft, die dann wiederum die nächsten Ziele und Wege beeinflussen , Söhne treffen lassen, Interessante Themen, mit denen nicht gerechnet wurde, hervor bringen…

    Das verbreitet irgendwie ein Gefühl von Leichtigkeit.

    Tja, auf Riga bin ich gespannt. Ihr habt schon einige gute Ziele angeregt.

    Ganz viele liebe Grüße, wo immer ihr jetzt seid.
    Petra

  5. Lieber Rolf, liebe Astrid,
    da haben wir uns doch glatt um eine Woche in Riga verpasst.
    Götz und ich brauchten von Kassel mit Auto und Fähre von Freitag 8.30 Uhr bis Sonntag 4 Uhr nebst Abschiedsküsschen von Gideon per Schlenker über das Reload-Festival in Sulingen und Kurzbesuch bei Maximilian in Hamburg. Bei Elisabeth konnten wir uns nicht persönlich verabschieden, sie macht gerade Praktikum im Goethe-Institut in Antananarivo auf Madagaskar…Da haben euch eure Räder noch gar nicht hingeführt????
    Nach Vorstellungsgesprächen am Montag und Dienstag in meinen zwei neuen Schulen – eine liegt neben der St.Petri-Kirche, ihr habt sie gewiss von oben sehen können – hatte ich gestern einen unerquicklichen Tag beim Beantragen einer lettischen ID, die nötig ist um hier arbeiten zu dürfen.
    Bürokratismus hoch acht plus Corona-Nachwirkungen, musste ich doch den Papierantrag wieder mitnehmen, um ihn dann an ebendieses Amt per Post in den 2 Stock schicken zu dürfen…also nicht nur in Deutschland ticken die Ämter nicht immer ganz richtig.

    Für die Reisetipps in Lettland bin ich euch sehr dankbar. Werde ich auf jeden Fall nutzen. Die Ostsee haben wir an drei von vier Abenden jedenfalls schon mal bebadet. Dicht am Meer zu wohnen ist wahrlich eine nette Erfahrung.

    Euch zwei Beiden wünsche ich noch eine gute Weiterreise mit allen Fahrradteilen.
    Ich habe mein Rad auch mitgebracht, da es hier ja soooooooo flach ist. Mal sehen, wie ich den Weg zu den Schulen hinbekomme.

    Beste Grüße
    Eure Buddy

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