Über uns ist nur der Himmel

Wir sind tatsächlich in Armenien. Irgendwie hatten wir den Abend vorher ganz schön Muffensausen, warum auch immer. Von Georgien aus gibt es drei Grenzübergänge. Wir haben die Haupttransitstrecke ganz im Osten gewählt, den Grenzübergang Bagratashen – Sadakhlo, der zwar stark frequentiert, aber die beste Strasse haben soll.

Armenien ist so gross wie 7,1 Mrd Tischtennisplatten, hat viele 3000er und dazu den grenznahen Ararat (5167m) in der Türkei. 90 Prozent Armeniens liegen über 1000 m üNN.
Wir kommen gut und ohne Zwischenfälle durch aggressive Hunde aus Tbilissi raus. Dreissig Kilometer stadtauswärts sehen wir plötzlich zwei Reiseradler. Sehr krass! Es gibt noch mehr Verrückte ausser uns: Angus aus Schottland und Moritz aus Deutschland. Die beiden haben sich hier kennengelernt und sind schon seit letztem Jahr hier. Wir tauschen uns über verschiedene Radrouten durch die Türkei aus – die beiden haben dies schon bewältigt. Angus steuert den gleichen Campingplatz an, wie wir – kommt dort aber nie an.

Schöner Plausch neben der Autobahn: Moritz, Angus und Astrid
Georgischer Rossmann an der Schnellstrasse
Grenzstation Georgien – Armenien

Campingplätze sind rar. Unser Platz liegt oberhalb einer grandiosen Schlucht, auf einem Hochplateau, 35 Kilometer hinter der Grenze zu Armenien. Die letzten 3.5 Kilometer gehen mit 7% hoch und kosten wieder einmal die letzten Körner. Jetzt entdecken wir den Kleinen Kaukasus. Der Aufstieg lohnt sich. Ein Idyll.

Blick vom Campingplatz in die herrliche Debed Schlucht, die wir mit dem Fahrrad nahezu komplett durchqueren
Eine der schönen Sitzgelegenheiten auf dem Campingplatz

Einkauf im Dorf? Nochmal 150 Höhenmeter. Martin, stolzer Besitzer des  Campingplatzes, sagt, der Weg ist ganz nah. Nur 20 Minuten zu Fuss, steil bergauf. Während Rolf das Zelt aufbaut, wähle ich doch das Fahrrad. Ohne Gepäck schaffe ich es vielleicht noch. Die Menschen grüssen alle freundlich. Ich fühle mich, wie in einer anderen Welt. Im kleinen Laden des 800Seelen-Ortes Haghpat weiss ich nicht, was ich kaufen soll. Letztlich gehe ich mit sechs Eiern, dem einzigen Stück Butter, einer von drei Salamis, vier Bier und zwei kleinen Joghurts raus. Mehr war nicht drin. Wir haben noch ein paar Nudeln, Tomatenmark und eine kleine Gurke, die wir heute geschenkt bekommen haben.
Es fängt nun dolle an zu regnen. Es schüttet.
Frisch geduscht, trinken wir noch ein Bier, verschieben das Essen auf den nächsten Morgen und kuscheln uns in unser Zelt.

Kloster Haghpat, UNESCO-Welterbe aus dem 10. Jahrhundert, komplett erhalten

Aufgrund der schlechten Wettervorhersage (Regen, kalt) verlassen wir nach zwei Tagen den Campingplatz und fahren weiter nach Süden in Armenien’s aufstrebenste Stadt, den Kurort Dilijan. Er hat 18.000 Einwohner und war schon zu Sowjetzeiten ein Erholungsort. Etwas ausserhalb haben wir bei Madam Susann ein Zimmer in ihrem Hotel mit herrlichem Garten gebucht.

Frühstück

Morgens und abends gibt es Überraschungsessen. Es schmeckt wie bei Muttern. Bier bringen wir selber mit. Die Bezahlung mit Kreditkarte in den kleinen Shops ist immer ein Lottospiel. Diesmal klappt es nach mehreren Versuchen scheinbar nicht und wir bezahlen bar. Im Hotel zurück ist Susann schon ganz aufgeregt. Es hat jemand aus dem Shop angerufen, ob sie zwei Touristen beherbergt. Die Kreditkarte wurde doch belastet. Wir möchten doch bitte das doppelt gezahlte Geld abholen. Im Shop liegt das Bargeld schon in einem Tütchen bereit: 6,15€. Die Armenier sind ehrliche Menschen.

Zum grösstenteils bewaldeten Dilijan Nationalpark (NP) sind es nur ein paar Schritte. Morgens sehen wir die mit Puderzucker beschneiten Berge. Nachts heulen die Wölfe und Koyoten. Es gibt ein hochmodernes Touristenzentrum mit reichlich jungem Personal und ‚Working Space‘ in der oberen Etage. Infomaterial ist leider aus. Zelte kann man leihen, um im NP wild zu zelten. Ausser Picknickplätzen gibt es dort nicht viel Infrastruktur. Der Transkaukasientrail verläuft dort und wir wandern knapp 30 Kilometer auf ihm. Wandern ist zuviel gesagt. Die Steigungen, das Gefälle und der matschige Boden erfordern unsere höchste Konzentration. Dennoch hat man sich die Mühe gemacht, an den Bäumen Wander- und Bikerzeichen anzumalen. Den möchten wir sehen, der hier fahren kann. Aber die Landschaft ist grandios und über uns ist nur der Himmel.

Wilder Rhabarbar

Wilder Rhabarbar, Flieder, Pilze, Holz, Mix Pickles, Krautsalat und ähnliches gibt es hier satt. Die Menschen sammeln alles in der Natur und verkaufen es am Strassenrand.

Keule, und wen’s friert, der kann das Fell kaufen
Gegrillte Maiskolben
Wer weiss, was darin ist. Wir probieren es nicht.
Rotwein aus Areni, der beste in Armenien – wer davon nicht blind wird
Werbung extra nachdrücklich.

Ausflug zum Kloster Hagharzin. Wie immer, eine kilometerlange Kraxelei.

Hagharzin
Aus diesem Auto stieg gerade eine 8-köpfige Familie aus, um das sehenswürdige Kloster zu besichtigen. Später überholt uns die Familie wieder fröhlich hupend.

Die Temperaturen sind weiterhin winterlich und wir freuen uns auf Wärmeres. Nach einer sternenklaren, noch kälteren Nacht als die fünf Tage davor, strahlt der Himmel morgens blau. Abschied nehmen von Susann, die uns so gut beherbergt hat.

Vor uns liegen 80 Kilometer, 1000 Höhenmeter auf den ersten 13 Kilometern. Die Auffahrt ist herrlich. Adrenalin wird ausgeschüttet. Ein Reiseradler kommt uns entgegen. Seltenheitswert.

Auf den letzten fünf Kilometern bergauf fahren wir die alte Passstrasse, während der gesamte Autoverkehr durch den Tunnel fährt. Über uns ist nur der Himmel. Es ist unbeschreiblich, umrahmt von weißen Bergen, unermesslich schön. Ja, ihr habt richtig gelesen, schneebedeckte Berge wohin man auch sieht, nach Norden, Süden, Osten, Westen. Ganz oben ein kleiner Ort und dann der Blick auf den Sewansee, 1900m hoch gelegen und wieder diese Berge.

Passhöhe erreicht mit Blick auf den Sewansee.
Der Hund hat uns treu seit dem letzten Dorf begleitet und geniesst die Rast mit uns.
Einen Wiedehopf bekommen wir auch noch vor die Linse

Unglaubliche Naturschönheit. Wir radeln am westlichen Ufer des Sevansee entlang und genießen das Panorama in vollen Zügen.
Wir übernachten bei Tigran und Liliana im Familienhotel Oazis bei Noratus. Hier liegt das „Feld der Kreuzsteine“. Mit 800 Kreuzsteinen aus dem 9. bis 17. Jahrhundert, ist es die größte erhaltene Ansammlung.

2005 hat das Militär von Azerbaijan in Dschulfa die bis dahin größte Ansammlung von 2500 Kreuzsteinen zerstört (ethnische Säuberung). Da fällt einem garnichts mehr ein.

Wir setzen tags drauf bei bestem Wetter unsere hochalpine Panoramafahrt entlang des Sees fort. Auf freier Strecke bremst uns plötzlich ein armenischer Lieferwagen aus. Der Fahrer steigt aus, drückt uns wortlos zwei Eistüten in die Hand und fährt weiter. Überwältigt schauen wir dem armenischen Bofrost-Fahrer hinterher und lassen uns das Eis schmecken.

Den schnee-bedeckten Bergen entgegen

Auf der Strasse können wir die Grüsse der Autos geradeso erwidern. So viele winken und hupen überschwänglich. Zwei Tage auf mehr als 2000m Höhe. Hier ist jetzt tatsächlich Frühling und die Wiesen blühen. Etliche Einheimische fahren mit dem Auto hoch, binden sich Schürzen um und sammeln Kräuter, wie frischen Origano, Koriander und vieles, was wir nicht kennen oder erkennen.

Zwei Nächte verbringen wir in Svetlana’s Campingparadies. Es ist toll, wieder im eigenen Bett (unserem Zelt) zu schlafen. Vermutlich gibt es in ganz Armenien nur eine Handvoll Campingplätze. Dank Park4Night sind sie gut zu finden und bieten europäischen Komfort und Luxus mitten im Naturparadies Armenien.

Kaffee mit Nutellastullen
Heute geht es mal ohne Gepäck mit dem Rad in die Berge – Suchbild
Wir besuchen das Kloster Tanahat

Ein riesiger Mönch heisst uns in der Kirche willkommen. Eine sehr alte Frau sitzt vor dem Altar, liebevoll betreut von ihrem Enkel. Eine Mutter sitzt hinten mit ihrem Kind und auch wir werden in den Kreis aufgenommen und zünden Kerzen an. Es ist ein sehr besinnlicher Moment.

Zum Tagesabschluss hören wir von Charles Aznavour ‚Du lässt Dich gehn‘. Charles Aznavour ist ein armenisch-französischer Künstler und Sänger und war armenischer Botschafter in der Schweiz und ständiger Vertreter Armeniens bei den Vereinten Nationen in Genf. https://www.youtube.com/watch?v=X0hIK4mgHmg


6 Kommentare

  1. Sehr schön, eure Reiseberichte. Wir wünschen euch weiterhin gute Fahrt mit vielen BoFrost-Männern und wenigen Hirtenhunden und gutem Wetter. Liebe Grüße vom Ursel und Alexander!

  2. Uns erreichen die Zeilen und Fotos aus Armenien im Stau auf der A7 in Höhe von Duderstadt. Wir sind genervt vom Rückreiseverkehr. Was für Kontraste in den Gefühlswelten..
    Lasst es euch gutgehen, ich bin jedes Mal geflasht und genieße die gedanklichen Ausflüge. Danke dafür.

  3. Hallo

    „Über uns ist nur der Himmel“.
    ich wusste gar nicht dass ihr Jürgen Drews Fans seid.
    Wie neue Welten den Musikgeschmack versa.. äh verändern.

  4. Hallo ihr zwei,

    Neben dieser unglaublich schönen Natur passiert euch viel unerwartetes in einem Teil der Welt, von dem ich wirklich nichts weiß.

    Einen kleinen Eindruck verschafft ihr mir ja nun:

    Schön, anstrengend, spektakulär, morbide, Angst machend , zugewandte freundliche Menschen, Eiseskälte, alternativer Konsum, phantastische Kultur, Unerwartetes.

    Es macht Spaß und ist total interessant, von euren Erlebnissen zu lesen und die Fotos zu sehen.

    Ich schicke warme Sonnenstrahlen und wünsche vorab eine gute Nacht, am besten im eigenen Zelt. Petra

  5. Unglaublich, faszinierend und mit viel Abenteuer. Eine spannende Reise, ein noch spannender Blog. Mit Freude lesen wir eure interessanten Erlebnisse und bewundern die Ausdauer. Es ist förmlich zu spüren, dass ihr trotz grösseren und kleineren Schwierigkeiten dieses Leben liebt. Weiterhin viel Spass .. aus Portugal viel Wärme in euer Zelt, letzteres habt ihr im Herzen. Grüsse von U & HP

  6. Hallo ihr zwei Reiseradler,
    ein wunderschöner Bericht, viel spannender als so mancher Reisebericht im Fernsehen, die wir gerne sehen. Die Natur ist herrlich und die
    Geschäfte am Wegesrand sehr interessant.
    Auf dem Suchbild ist ein Radler mit einem gelben Rad zu sehen, das kann nur Rolf sein.
    Wir wissen so wenig über Armenien und sind deshalb gespannt auf den nächsten Bericht.
    Liebe Grüße
    Heidi und Henner

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert